Zwischen Einfachheit und Komplexität
Die Gegensätze innerhalb des Themas Deutschlandtickets sind enorm. Während die Fahrgäste von der Vereinfachung des Tarifangebots profitieren, war und ist es für die ÖPNV-Branche ein gewaltiger Kraftakt, die Komplexitäten hinter den Kulissen zu lösen.
Ein Potpourri an Herausforderungen
Unterschiedliche Standards bei der Fahrkarten-Kontrolle, Chipmangel, ein gangbares Prozedere für die Einnahmenaufteilung, passende Angebote für einzelne Fahrgastgruppen: Bei der Einführung des Deutschlandtickets gab es einiges zu bedenken. „Wenn man sich die Bandbreite der Schwierigkeiten anschaut, könnte man meinen, wir beim VRS wären noch gut weggekommen, da wir sowohl bei den Kontrollen als auch der Chipkarten-Verfügbarkeit keine großen Probleme hatten“, sagt Sascha Triemer, Abteilungsleiter Tarif & Vertrieb beim Verkehrsverbund Rhein-Sieg (VRS). „Doch die immensen Abstimmungsaufwände und immer neue Anforderungen an die Ausgestaltung des Deutschlandtickets haben uns, bei aller Begeisterung für die Vereinfachung des Zugangs zum ÖPNV für die Fahrgäste, Einiges abverlangt.“
Das passende Deutschlandticket für alle
Zum 01. Juli 2023 hat das beim VRS angesiedelte Kompetenzcenter Marketing NRW gemeinsam mit den Verkehrsverbünden und Tarifgemeinschaften in NRW zwei Upgradetickets auf den Markt gebracht: Seitdem haben Fahrgäste, die über ein Deutschlandticket oder ein anderes Aboticket aus dem Portfolio des NRW-Nahverkehrs verfügen, die Möglichkeit, ergänzend Abotickets für die 1.-Klasse-Nutzung (monatlich zusätzlich 69 Euro) bzw. die Fahrradmitnahme (monatlich zusätzlich 39 Euro) in NRW hinzuzukaufen.
Die Abstimmungen für speziell auf sozial Benachteiligte und Studierende zugeschnittene Deutschlandtickets laufen noch. Diese Angebote sollen zeitnah realisiert werden. Bereits verfügbar ist das Deutschlandticket Schule. Im VRS zeigt sich ein heterogenes Bild für den Umgang mit diesem ÖPNV-Angebot für Schüler. Die Schulträger entscheiden selbst, welches Modell sie ihren Schülerinnen und Schülern für die Nutzung des ÖPNV anbieten. „Manche Schulträger entscheiden sich für den Verbleib im VRS-SchülerTicket, andere buchen selbstständig Deutschlandtickets für ihre Schüler – das Vorgehen ist da jeweils sehr unterschiedlich“, berichtet Sascha Triemer.
Neben den erwähnten Angeboten für einzelne Zielgruppen tauscht sich die Branche über verschiedene Ergänzungen zur deutschlandweiten Nutzung, wie die bundesweiten Mitnahmemöglichkeiten von Personen und Fahrrädern oder der bundesweiten 1.-Klasse-Nutzung, aus.
Die größte Herausforderung ist die Finanzierung
Die Frage, wer perspektivisch finanziell für das Deutschlandticket aufkommt, ist noch nicht beantwortet. Über den Ausgleich, den Bund und Länder für die entstehenden Einnahmeausfälle zahlen, ist das am 01. Mai gestartete Deutschlandticket zwar für das angebrochene Jahr 2023 gesichert. Darüber hinaus aber bislang nicht. Hinzu kommt, dass Experten davon ausgehen, dass die 3 Milliarden Euro, die Bund und Länder für das „Teiljahr“ 2023 jeweils hälftig zuschießen, für das Jahr 2024 nicht mehr reichen werden. „Die Branche geht davon aus, dass ein Delta von rund 1,7 Milliarden Euro besteht, der Gesamtbedarf also bei 4,7 Milliarden Euro jährlich liegt“, so Sascha Triemer. „Noch nicht berücksichtigt in dieser Summe ist die Kompensation der enorm gestiegenen Kosten für Material, Energie und Personal. Diese liegen im hohen zweistelligen Prozentbereich.“
Im Worst Case drohen Leistungsstreichungen
Für die Kommunen als Aufgabenträger für den ÖPNV sowie die Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs bedeuten diese Finanzlücken ein immenses Risiko. Sollten Bund und Länder keine die Kostensteigerungen inkludierende Nachschusspflicht beschließen, müssten die Kommunen den Verkehrsunternehmen die Fehlbeträge ausgleichen – oder im schlimmsten Fall Nahverkehrs-Leistungen streichen. „Das kann selbstverständlich in Zeiten, in denen wir den ÖPNV im Sinne des Klimaschutzes zwingend stärken müssen, niemand wollen“, betont Sascha Triemer und reißt damit das nächste große Problem an. Die in Rede stehenden 4,7 Milliarden Euro an Subventionen würden lediglich ausreichen, um die Bestandsverkehre zu sichern.
„Wir dürfen in der aktuellen Debatte nicht nur die Bestandsverkehre betrachten. Der Nahverkehr und die benötigte Infrastruktur müssen dringend ertüchtigt und ausgebaut werden, um eine konkurrenz- und leistungsfähige Alternative zum eigenen Auto zu sein. Die Kommunen sind bereits am Rande des Leistbaren angelangt und dürfen nicht noch stärker belastet werden, denn dann drohen Angebotskürzungen bei Bus und Bahn. Daher appellieren wir an Bund und Land, die Finanzierung des Nahverkehrs auf verlässliche und auskömmliche Füße zu stellen, um so die Verkehrswende nachhaltig voranzutreiben.“
Ein Gutachten für bessere Wege zur Finanzierung.
Vorschläge, wie die Finanzierung des Nahverkehrs nachhaltig auf bereitere Füße gestellt werden könnte, hat das vom VRS beauftragte Gutachten der mobilité Unternehmensberatung aufgezeigt. Die Expertinnen und Experten identifizierten nicht nur den Finanzbedarf, den es brauchen würde, um das im NRW-Koalitionsvertrag niedergelegte Ziel einer Fahrgaststeigerung um 60 Prozent bis 2030 zu erreichen.
Das Gutachten zeigt darüber hinaus mehrere Optionen auf, wie eine sogenannte „Nutznießerfinanzierung“ die beiden bisherigen Finanzierungssäulen Ticketeinnahmen und Steuermittel ergänzen könnte. Die Bandbreite reicht von intensivierter Parkraumbewirtschaftung bis zu einem ÖPNV-Grundbeitrag. Mehr Informationen zum Finanzierungsgutachten gibt es auf der Webseite des VRS.