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VRS-Gespräch mit Corinna Rindle, Leiterin der Kölner Bahnhofsmission

„Ich hoffe auf ein neues Bahnzeitalter.“

Die beiden Gesprächspartner stehen gut gelaunt vor dem Kölner Hauptbahnhof.
Nicht nur die Sonne lacht: Corinna Rindle, Leiterin der Kölner Bahnhofsmission, trifft auf VRS-Geschäftsführer Michael Vogel.

Für das VRS-Gespräch trifft VRS-Geschäftsführer Michael Vogel Menschen, die eine Bühne verdient haben. Menschen, die karitativ arbeiten. Die sich kulturell engagieren. Für den diesjährigen Verbundbericht war Michael Vogel zu Besuch in der Kölner Bahnhofsmission und sprach mit deren Leiterin Corinna Rindle unter anderem über Menschen und Mobilität, soziale Herausforderungen und Corona.

Das Bild zeigt den Eingang der Kölner Bahnhofsmission.
Erste Adresse für gestrandete Seelen: die Kölner Bahnhofsmission auf Gleis 1.

Praxiserfahrung auf beiden Gesprächsseiten

Michael Vogel (MV): Ich habe bei der Deutschen Bundesbahn gelernt und 1981 angefangen. Ich habe dieses Jahr also vierzigjähriges Dienstjubiläum. Daher die grauen Haare. (beide lachen) Zwischen den Prüfungen musste ich sechs Wochen als Reisendenhelfer auf den Bahnsteig. Und da habe ich ihre Kolleginnen und Kollegen kennengelernt. Das Verhältnis war sehr herzlich. Von daher ist mir die Bahnhofsmission immer sehr positiv in Erinnerung geblieben. Auch die leckere Suppe, die es ab und zu gab. (Corinna Rindle lacht). Deshalb war ich auch sehr angetan von dem Vorschlag, dass wir uns hier einmal unterhalten können und ich wieder die Gelegenheit für einen engeren Kontakt zur Bahnhofsmission bekomme.

Corinna Rindle (CR): Ich habe mich in der Tat sehr über die Anfrage gefreut, weil Bahn und VRS hängen natürlich zusammen, ist völlig klar und ich freue mich immer sehr, wenn es ein Interesse gibt „Was steckt denn eigentlich hinter diesem Wort Bahnhofsmission?“

MV: Dann sagen Sie doch mal, was da genau hinter steckt.

CR: Gerne. Es gibt bundesweit über hundert Bahnhofsmissionen, die meisten in größeren Städten, die meisten in NRW. Warum? Weil es in NRW viele Großstädte gibt. Früher gab es auch in der Kölner Bahnhofsmission eine Suppe. Die Suppe und auch die regelmäßigen Kaffeezeiten sind seit über zehn Jahren eingestellt, weil es am Bahnhof hier in Köln zwei Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe gibt. Das ist einmal der Sozialdienst Katholischer Männer mit der Fachstelle Wohnungslosenhilfe und am Breslauer Platz ist eine Überlebensstation für Obdachlose namens „Gulliver“. Das sind zwei Einrichtungen, die unter anderem von der Stadt dafür finanziert werden, dass sie die Versorgung wohnungsloser Menschen übernehmen.

MV: Die Menschen, die zu ihnen kommen: Wie bezeichnen Sie die eigentlich? Sind das Ihre Gäste?

CR: Ganz genau, das sind unsere Gäste. Auch weil der Begriff Gast – da steckt ja ein Willkommen drin. Sie sind uns herzlich willkommen. Nehmen Sie erst einmal Platz und dann gucken wir mal, was ansteht. Das heißt, der Zugang zu uns, der hat keine hohe Schwelle. Ich muss nichts haben, ich muss nichts können, ich muss nichts wissen. Ich muss auch kein Problem haben – wichtig! – ich kann mich da einfach einen Moment aufhalten. Ich kann jemanden bitten, mir sein Ohr zu leihen.

Wir sehen zwei Mitarbeiter, die bekleidet mit ihren typischen blauen Westen, auf Gäste warten.
Offene Ohren und Arme: der Empfangsbereich der Kölner Bahnhofsmission.

Über 75 Helferinnen und Helfer allein in Köln

MV: Wie viele Ohren gibt es denn hier?

CR: Hier gibt es massig Ohren. So kann man sagen. 75 Ehrenamtliche, zwei junge Menschen im Freiwilligendienst, drei Honorarkräfte für besondere Aufgaben, Praktikantinnen und Praktikanten sowie fünf Hauptamtliche mit Teilzeitstellen. Das ist was, da bin ich sehr respektvoll und sehr demütig dabei. Weil Ehrenamt heißt: Ich komme freiwillig, ich kriege nichts dafür und ich lasse mich auf einige Regeln ein, die die Bahnhofsmission mit sich bringt. Es sind 75 Menschen zwischen im Moment 18 und 83 Jahren, spannenderweise ungefähr halb „Männlein/Weiblein“, das ist gemischt. Diese Ehrenamtlichen, die eigentlich alle mit sozialer Arbeit null und gar nichts zu tun hatten, stellen sich da hin, heißen Menschen willkommen, heißen Gäste willkommen, schenken denen ihr Ohr. Und wir haben ein kleines Team an Hauptamtlichen. Wir sind vom Stellenumfang her zweieinhalb und unser Job ist, die Ehrenamtlichen zu begleiten, anzuleiten und – wichtig, wichtig, wichtig! – für gute Fortbildungen zu sorgen. Weil es ist wichtig zu lernen „Was mache ich denn, wenn’s an der Tür klingelt? Wie begrüße ich Menschen? Wie führe ich ein Gespräch? Wie gestalte ich den Kontakt? Wie halte ich professionelle Distanz?“

Praktizierte Ökumene

MV: Wer trägt die Bahnhofsmission?

CR: Die Bahnhofsmission hat zwei Träger. Schon fast 125 Jahre, wir sind jetzt 123 alt. Die Besonderheit ist, es war von Anfang an eine ökumenische Einrichtung: katholisch, der Träger heißt IN VIA, IN VIA Köln e.V., und das Diakonische Werk Köln und Region. Wir sind eine ökumenische Einrichtung, und das Team ist ökumenisch. Das Team hat sehr unterschiedliche Hintergründe. Nicht alle gehören einer der Kirchen an, aber alle können die Grundwerte mittragen.

MV: Dann ist eigentlich doch die Bahnhofsmission ein Pionier der Ökumene.

CR: Absolut! Als Organisation sind wir ein absoluter Pionier der Ökumene, ja. Mir ist das Thema Ökumene in der Tat ein großes Anliegen. Insbesondere bei den aktuellen unsäglichen und unerträglichen Geschehnissen – diesmal ist es im Bereich der katholischen Kirche, was Missbrauch und den Umgang mit Missbrauch angeht – finde ich, darf es auch durchaus mal andere Beispiele geben, was Kirche noch macht.

MV: Die Frage ist natürlich: Wie kann man das alles von außen noch unterstützen? Was braucht Bahnhofsmission über die bestehenden Trägerschaften hinaus?

CR: Bei der Frage der Finanzierung ist Bahnhofsmission wirklich ein Sonderfall. Weil wir keine refinanzierbaren Aufgaben leisten. Wir leben von Spenden. Und wenn uns jemand was Gutes tun will, freuen wir uns am meisten über Geldspenden, denn dann können wir die zielgerichtet einsetzen. Leider haben wir keine Möglichkeit, jede Form von Sachspenden hier zu lagern, einfach aus räumlichen Gründen und wir dürfen keine Essensspenden annehmen. Und trotz der Unterstützung bleiben die Träger beide am Jahresende auf einem nicht unerheblichen Betrag sitzen.

Hellwach im Dialog: Die Gesprächspartner stehen in der Kaffeeküche und tauschen sich aus.

Der Bahnhof: ein gastfreundlicher Mikrokosmos

MV: Ein Player, der den Namen bestimmt – Bahnhof – spielt gar keine Rolle?

CR: Die Deutsche Bahn ist für uns zentrale Kooperationspartnerin. Zum einen stellt sie die Räumlichkeiten. Wir könnten uns niemals Räumlichkeiten im Hauptbahnhof leisten. Wir haben das Glück, ich kann es nicht anders sagen, mit Kai Rossmann (Bahnhofsmanager Köln Hbf, d.Red.), der sehr hinter uns steht, an unserer Seite steht, uns unterstützt. Er ist zwar Fan von Borussia Dortmund (grinst), aber selbst das verzeihe ich ihm, weil er einfach so unterstützend ist. Wie auch das gesamte Team. Ich habe auch mit anderen Bahnhofsmanagern zu tun gehabt im Laufe der Zeit. Immer wieder kam der Irrtum auf, Bahnhofsmission würde Probleme anziehen. Das ist Quatsch. Bahnhof ist ein Mikrokosmos, ein ganz eigener Mikrokosmos, an dem unglaublich viel passiert. Und was unser Anspruch ist: Wir wollen einen guten Überblick haben über das Kölner Hilfesystem und wir wollen gute Kontakte haben in das Hilfesystem, sodass wir Menschen mit einem speziellen Anliegen gut vermitteln können. Weil es geht ja erstmal darum, Vertrauen aufzubauen, aber dann vermitteln wir an Fachberatungsstellen.

MV: Einstieg in die Hilfe, sozusagen.

CR: Genau. Wir versuchen, den Menschen ein freundliches Willkommen hier in Köln am Bahnhof anzubieten.

Da sein, wenn sich Geschichte wiederholt

MV: Ja, weil der Bahnhof ein Ort ist, wo Menschen unterwegs sind. Und wenn man schaut, was der Anlass der Gründung war: die Zureisenden, die im Zuge der Industrialisierung in die wachsenden Städte kamen. Und dann hörte das Zureisen ja gar nicht mehr auf. Im Ersten Weltkrieg kamen die Kriegsversehrten. In den 20er Jahren gab es die Wirtschaftskrise. Dann gab es wieder Krieg und wieder Flucht und Vertreibung. Die deutsche Trennung und der Mauerfall. Und dann 2015 die Flüchtlingsbewegung. Und immer haben Sie am Bahnsteig gestanden und Hilfe geleistet und die Hände gereicht.

CR: Ja. Und zwar vor allem die Ehrenamtlichen. Und das Angebot ist sehr vielfältig. Es gibt zum Beispiel ein Kooperationsprojekt mit der Deutschen Bahn, das nennt sich „Kids on Tour“, da werden Kinder auf ihrer Reise begleitet. Im Moment ist leider pandemiebedingt Betriebspause, aber im Normalfall werden Kinder bundesweit auf ganz verschiedenen Strecken begleitet. Also da wird die Mobilität von Kindern unterstützt. Wie wir sonst auch Mobilität von Menschen mit Behinderung unterstützen. Oder von Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Oder von Senioren und Seniorinnen. Die hier ins Gewühl am Kölner Hauptbahnhof zu stellen und sagen „Steig mal um von Zug A nach Zug C“ – das klappt nicht. Die brauchen eine Hand, die brauchen Unterstützung, um ihre Mobilität zu gewährleisten.

Barriere: nicht barrierefreie Gebäude

MV: Richtig. Diesen Älteren hilft keine App, ihnen hilft nur die Hand. In Zeiten der Gründung der Bahnhofsmission gab es ja noch nicht so barrierefreie Bahnhöfe. Das kann man sich in Deutz heute noch angucken, wie schön das ist, wenn man steile Treppen steigen muss. Was wir da tun, ist, als Nahverkehr Rheinland über Förderprogramme den Ausbau von Barrierefreiheit zu finanzieren. Wir sind als Organisation sehr engagiert und daran beteiligt, dass sich zum Beispiel in Deutz etwas ändern wird. Die Mühlen mahlen langsam, es ist Infrastruktur, solche Bauwerke entstehen nicht von heute auf morgen.

CR: Ich weiß.

MV: Und da haben wir, glaub‘ ich, ein gemeinsames Interesse und das kann man in einem solchen Gespräch nochmal hervorheben: Das brauchen Sie und wir unterstützen das gerne mit unseren Mitteln und Möglichkeiten.

CR: Also würden Sie mich jetzt fragen „Was halten Sie für besonders wichtig an Bahnstationen?“. Wenn es drum geht, die Mobilität von Menschen zu fördern im Öffentlichen Personennahverkehr, dann geht es darum, Barrierefreiheit und Sicherheit in den Fokus zu nehmen.

MV: Das muss so sein, dass über die Barrierefreiheit die Teilhabe von allen geschaffen wird. Baulich, sozusagen in Beton gegossen.

Corinna Rindle und Michael Vogt stehen inmitten der Empfangshalle vor dem Timetable und diskutieren gestenreich.

Auch das Tarifsystem kann barriereärmer werden

CR: Genau. Teilhabe ist eine der zentralen Überschriften. Gerade Teilhabe auch von Menschen, die Hürden zu bewältigen haben. Ich hoffe übrigens mit Ihnen gemeinsam – ich glaube, da treffen wir uns auch – dass wir wieder in ein Bahn-Zeitalter kommen. Denn – ob jemand mag oder nicht – es ist alternativlos. Aus ökologischen Gründen gibt es keine wirklich guten Alternativen. Man kann sich aufs Fahrrad schwingen – das ist in Köln eher gefährlich – oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen.

Was mir im Bereich des ÖPNV fehlt, ist ein Tarifsystem so, dass es wirklich für alle leistbar ist. Mir ist völlig klar, dass es Geld kosten muss, das geht gar nicht anders. Aber ich weiß eben auch, dass es für viele Menschen, die wenig Geld haben, nicht nutzbar ist. Mich hat sehr angesprochen, das Wiener Modell mit dem 1-Euro-Ticket pro Tag, also 365 Euro im Jahr. Und wenn man mich fragt „Was würdest du dir wünschen?“ – das würde ich mir wünschen, zumindest als Versuch.

Und es gibt noch einen anderen Teil, Sie werden mich für bekloppt halten, ich hau‘s trotzdem raus: Es gibt Momente, da wünsche ich mir den Mann oder die Frau in der Bahn, die vor Ort Tickets verkaufen. Damit wären verschiedene Fliegen mit einer Klappe geschlagen: das Gefühl der Sicherheit und das Thema Fahrkartenkauf. Und wer keine Kohle hat, muss bei der nächsten Station aussteigen. Ich trau mich da zumindest zu spinnen, wenngleich ich weiß, dass es zu rückwärts- und nicht vorwärtsgerichtet ist.

MV: Der Digitalisierungstrend ist nicht aufzuhalten und wir versprechen uns auch einiges davon. Heute besteht sicherlich ein relativ ausgewogenes Verhältnis zwischen vorhandenem Personal und schon automatisiertem Verkauf. Da könnte man sich sicherlich immer mehr wünschen. Doch dann hat man schnell die Wirtschaftlichkeitsthemen. Und wenn man dann auch noch günstige Tickets haben will, ist man in einem Zielkonflikt, den man nicht mehr auflösen kann. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir mal eine Situation haben werden, wo wir nur digital unterwegs sein werden. Ich glaube, dass man allein aus dem Blickwinkel der Daseinsvorsorge immer ein gewisses Sortiment von leicht zu erwerbenden Fahrkarten haben muss. Und für die, die kein oder wenig Geld haben, haben wir Sozialtarife. Nicht nur ein oder zwei Alibi-Tickets, sondern ein wirkliches Sortiment. Und wir haben vor allen Dingen auch, da legen wir Wert drauf, eine Strategie von sogenannten Flat-fair-Produkten. Wo also die Solidargemeinschaft bezahlt. Das haben wir beim Semesterticket, beim JobTicket, beim SchülerTicket, und ich glaube, das ist auch ein Thema der Teilhabe. Ja, auch da kann man nicht genug haben – aber ich meine, dass wir hier gute Angebote haben.

CR: Das Monatsticket Stadtgebiet Köln ist, sage ich jetzt mal, kein Schnäppchen. Ich habe zum Beispiel kein Auto, dadurch kann ich das bezahlen.

MV: Für die, die es sich nicht leisten können, versuchen wir, das über das Sozialticket hinzubekommen. Dass jene, die eine Berechtigung haben, ein günstiges Ticket erhalten. Wenn man mehr Geld hätte, könnte man da auch noch mehr machen. Die Wiener sind da leider sehr weit von uns entfernt mit ihren Mitteln und Möglichkeiten.

CR: Schade!

MV: Ja, das ist schade. Ist aber eine Frage des politischen Willens.

CR: Absolut, das ist eine Frage des politischen Willens. Ich wollte Ihnen nur sagen: Ich wäre da sehr offen für.

Überzeugungstäter auf dem Weg: Corinna Rindle und Michael Vogt gehen nebeneinander über einen Bahnsteig.

Überzeugungstäterin – auch bei der eigenen Mobilität

MV: Ja. Ich nehme den Appell wahr. (beide lachen) Aber Sie selber nutzen also auch den ÖPNV?

CR: Ich bin hoffnungslos dem ÖPNV verfallen. Warum? Als ich nach Köln zog, hatte ich noch ein Auto. Ich habe in Düsseldorf gearbeitet und in Köln gelebt und nach einem halben Jahr dachte ich „Bist du eigentlich bekloppt?“. Im Belgischen Viertel hat die Parkplatzsuche in der Regel `ne halbe Stunde gedauert. Und dann habe ich mein Auto verkauft. Als Mädel vom Land in Bayern – ab dem 18. Lebensjahr war es selbstverständlich, ein Auto zu haben. Und ich dachte damals „Ohne Auto, oh Gott!“. Das ist jetzt 28 Jahre her. Ich leb‘ total gut ohne Auto. Ich brauch‘ kein Auto.

Was ich im Moment aber noch viel entscheidender finde, ist das Thema des ökologischen Bewusstseins. Es ist absolut nicht zu vertreten, wie viele vierrädrige Gefährte in dieser Stadt unterwegs sind, sich um Parkplätze balgen und die Luft verpesten. Ich wäre eine große Verfechterin der autofreien Innenstädte.

MV: Ja. Und ich glaube einfach auch, dass auch für die jetzt schon lebende Generation die Lebensqualität in den Städten sich erheblich verbessern würde, wenn es dort wesentlich weniger Autoverkehr gäbe. Man schaue sich nur an, wieviel Fläche verbraucht wird für Autos. Den Lärm und die Abgase.

CR: Völlig inakzeptabel. Da merke ich auch: Da werde ich eher radikaler als weicher an der Stelle, weil jeder mit einem gesunden Menschenverstand muss doch einsehen und begreifen: Jetzt steht Veränderung an! Und dafür hat es auch nicht erst die Naturkatastrophe rund um Köln mit dem Hochwasser benötigt. Das hätten wir auch vorher wissen können.

MV: Da ist die Frage, wie man das durchsetzt. Ich glaube, an der Stelle helfen nur Restriktionen. Es gibt halt die Fläche nicht mehr, es wird nicht mehr geparkt und es kann nicht angehalten werden.

CR: Ich glaube auch: Allein auf Einsicht ist nicht zu bauen in vielen Feldern. Bedauerlich, aber wahr. Ich wünsch‘ es mir anders.

Corinna Rindle und Michael Vogt stehen inmitten der Empfangshalle vor dem Timetable und diskutieren gestenreich.

Seit der Pandemie läuft vieles außer Plan

MV: Wir haben jetzt gerade mit der Coronakrise eine ziemliche Störung der sozialen Verhältnisse. Wir merken das sehr stark, weil unsere Fahrgäste wegbleiben. Leute fahren nicht mehr mit dem ÖPNV, fahren jetzt mehr mit dem Rad, fahren eben auch viel mehr Auto. Was wir erleben, ist ein sich verfestigender Strukturwandel vom Massenverkehrssystem zum Individualverkehrssystem, und wir befürchten, dass wir diesen Schaden, der da gerade entsteht, ganz lange nicht korrigiert bekommen. Der Rückgang der Fahrgäste betrifft Sie ja auf der einen Seite, auf der anderen Seite sind Sie ja auch immer mit den Problemen der Menschen beschäftigt.

CR: Die Pandemie hat auch für Bahnhofsmissionen natürlich massive Auswirkungen gehabt, vor allem, als es anfing. Unsere Gesellschaft war nicht eingerichtet auf eine Pandemie. Von heute auf morgen war plötzlich alles dicht und es hieß „zu Hause bleiben“. Jetzt sagen Sie mal wohnungslosen Menschen „Bleibt zu Hause“. Eine große Verunsicherung hat um sich gegriffen. Relativ schnell war uns klar: Wir machen nicht zu, wir beraten am Fenster. Das ist jetzt vielleicht nicht der schönste Ort am Fenster in der Bahnhofsmission, aber wir konnten doch nicht zumachen. Binnen fünf Tagen war es möglich, gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen von der Stadt und den freien Trägern ein Hygienemobil am Bahnhofsvorplatz hinzustellen. An dieser Stelle ein großes Kompliment an die Mitarbeitenden des Sozialamtes und anderer beteiligter Ämter: Sehr schnell, sehr unbürokratisch konnte das Hygienemobil installiert werden. Das Duschen hatte, das Toiletten hatte. Was da deutlich wurde: Es kamen beileibe nicht nur Wohnungslose, es kamen auch arme Menschen. Die vielleicht noch eine Bleibe haben, aber die hinten und vorne nicht klar kommen mit dem, was ihnen monatlich zur Verfügung steht. Die Tafeln hatten geschlossen, es war ja plötzlich alles zu. Jeden Tag waren zwei Ehrenamtliche von uns dort vor Ort und standen für Fragen, Gespräche, Tränen, Aggression, für alles zur Verfügung. Weil die Situation natürlich unglaublich verunsichert hat.

MV: Da hat sich, glaube ich, die Schere des Elends noch viel, viel weiter geöffnet – schlagartig.

CR: Wir haben relativ schnell unsere Tore wieder geöffnet – natürlich mit einem Hygienekonzept. Weil für mich steht die Sicherheit des Teams wie auch der Gäste an erster Stelle. Die Pandemie hat schon reingehauen.

MV: Und die wirtschaftlichen Folgen kommen ja noch.

Und die sehen Sie dann hier.

CR: Yep. Wir haben im Jahr 35.000 Kontakte zu unterschiedlichen Menschen, das ist eine Menge Holz. Wir hatten alle vermutet, dass das im vergangenen Jahr weniger waren pandemiebedingt. Das war überhaupt nicht so. Nur die Kontakte fanden im Bahnhof statt, vor dem Bahnhof, im Rahmen des Hygienemobils – es waren andere Kontaktformen.

Schicksale so vielfältig wie das Leben

MV: Was sind heute Ihre Gäste?

CR: Das ist so bunt wie nur irgendwas vorstellbar ist. Die Gestrandeten sind geblieben, aus welchen Gründen auch immer Menschen hier stranden. Es kommen aber auch Frauen hierher, die gesagt haben „Ich kann nicht mehr, ich bin geschlagen worden, ich brauche Hilfe“. Es kommen Menschen mit Suchterkrankungen hierher. Es kommen Reisende hierher, die Fragen haben. Was unglaublich zugenommen hat in den vergangenen Jahren, allein in den letzten zehn, sind Menschen, die mit psychischen Belastungen oder manifest psychiatrischen Erkrankungen auftauchen. Solang bei uns niemand Gewalt ausübt oder androht, können Menschen hier rein. Wohnungslosigkeit ist ein Thema. Kinder. Ich hätte es nicht geglaubt, wie oft Kinder am Bahnsteig vergessen werden.

MV: Was sind dann die Geschichten, die dahinterstecken? An welche erinnern Sie sich besonders?

CR: Das Kind, das sich jetzt vor mir hab‘, das war ein unglaublich tapferes Mädel, vielleicht 7 oder 8. Mutter und Vater haben das Gepäck in den Zug gepackt und während sie das Gepäck zum Platz brachten, schloss sich die Zugtür. Es ist halt passiert. Oder der Muslim, der – auch kein Witz – mit Teppich unterm Arm gefragt hat, ob er bei uns beten dürfe. Natürlich durfte er bei uns beten. Genauso präsent ist mir die Frau, die war so Anfang, Mitte 70, die anschaffen ging, und zwar bei den Lkw-Fahrern am Autobahnstrich. Also, es gibt nichts, was es hier nicht gibt, und ich lerne auch jeden Tag dazu. Das ist auch einer der Gründe wahrscheinlich, warum ich immer noch hier bin.

Positives Gespräch und beste Stimmung: Corinna Rindle und Michael Vogel stehen am Ende ihres Treffens gut gelaunt auf dem Breslauer Platz, dem Hinterausgang des Kölner Hauptbahnhofs.
Corrina Rindle steht vor dem Eingang der Kölner Bahnhofsmission.
Positives Gespräch und beste Stimmung: Corinna Rindle und Michael Vogel stehen am Ende ihres Treffens gut gelaunt auf dem Breslauer Platz, dem Hinterausgang des Kölner Hauptbahnhofs.
Überzeugungstäter auf dem Weg: Corinna Rindle und Michael Vogt gehen nebeneinander über einen Bahnsteig.

Offene Ohren sind das Herz der Bahnhofsmission

MV: Ja, Sie sind seit zehn Jahren hier. Und Sie haben es immer noch nicht bereut und sind immer noch nicht müde.

CR: Ich habe nicht den Eindruck nach zehn Jahren Bahnhofsmission, dass ich alles mitgekriegt habe. Was ich besonders schön finde: Wenn es Gäste gibt, denen es sichtlich aus verschiedenen Gründen nicht gut geht, die uns trotzdem ein Lächeln schenken oder ein Danke oder die sagen: „Wissen Sie was? Ihr Lächeln, das hat mir mehr geholfen als alles andere bzw. Ihr offenes Ohr.“ Und ich glaub, die Kernkompetenz der Bahnhofsmission, wenn ich das so formulieren würde, ist das offene Ohr.

MV: Ja, das glaube ich auch. Sie wirken auch genau an der richtigen Stelle.

CR: Oh, vielen Dank! Das ist ein Kompliment. Das nehme ich jetzt und wehr‘ mich nicht.

MV: Gerne. Ich bin auch beeindruckt und auch wieder mal bestätigt in meiner positiven Wahrnehmung der Bahnhofsmission.

CR: Das freut mich natürlich sehr.

Die Geschichte der Kölner Bahnhofsmission

Die Bahnhofsmissionen wurden Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, um in Zeiten der Industrialisierung und der Landflucht Mädchen und Frauen, die auf der Suche nach Arbeit in die Städte kamen, zu unterstützen und zu beschützen. Die Bahnhöfe waren ihre ersten Berührungen mit der neuen Heimat. Ehefrauen wohlsituierter Bürger und Adelsleute nahmen sich der Neuankömmlinge an, vermittelten sie in sichere Unterkünfte, schützten sie vor unseriösen Kontakten und Ausbeutung am Arbeitsplatz. So entstand 1899 auch die Kölner Bahnhofsmission. Schon damals besaßen die Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission ihre Erkennungszeichen: für die evangelische Bahnhofsmission das rosafarbene Johanniterkreuz und für die katholische Bahnhofsmission der gelbe Balken, welche heute zu einem gemeinsamen Logo zusammengefasst als allseits bekanntes Markenzeichen der Bahnhofsmissionen in ganz Deutschland gelten.

Zunächst hatte es in den Bahnhofsmissionen konfessionsgetrennte Dienste gegeben. 1910 taten sich schließlich die evangelischen und katholischen Bahnhofsmissionen zusammen.

Details zur bewegten Geschichte der Kölner Bahnhofsmission finden Sie hier.

Wenn Sie die Arbeit der Kölner Bahnhofsmission unterstützen möchten, finden Sie hier alle nötigen Informationen.

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